Ein Brief an alle Eltern

Liebe Mutter, lieber Vater,

vielleicht habt Ihr einen Sohn, der gerne Mädchenkleider und lange Haare trägt und außerdem Glitzer, Einhörner und typische Mädchenrollenspiele mag. Vielleicht sagt er sogar, er wolle lieber ein Mädchen sein, und er wolle das Ding da vorne nicht haben. Vielleicht malt Dein Kind sich selbst als Mädchen. Oder Ihr habt ein Mädchen, das lieber Jungssachen macht und entsprechend burschikose Kleidung trägt, was aber meistens weniger auffällt. Oder Ihr habt ein Kind, das sich einfach überhaupt nicht festlegen mag. Mal mag es ein Junge sein, mal ein Mädchen. Und es fühlt sich wohl in Beidem.

Vielleicht hat Euch die Erzieherin im Kindergarten oder die Lehrerin in der Schule darauf angesprochen, dass Euer Kind möglicherweise anders ist. Und Ihr macht Euch Sorgen, besonders, wenn einer von Euch gegoogelt hat. Vielleicht seid Ihr gerade dabei, herauszufinden, welche Haltung ihr zu alldem habt. Vielleicht habt Ihr Fragen, vielleicht Ängste. Vielleicht würdet Ihr gerne andere Kinder und Eltern kennenlernen, mit denen Ihr Euch austauschen könnt. Vielleicht habt Ihr Euch schon Hilfe geholt, Euch informiert und freut Euch dennoch, andere Eltern mit Kindern zur gleichen Thematik treffen zu können. Um Erfahrungen auszutauschen oder um einfach nett beisammen sitzen zu können.

Bei TransAll möchten wir Euch ermutigen, hier in Freiburg Gleichgesinnte kennenzulernen und einen regelmäßigen Stammtisch ins Leben zu rufen. Lange Zeit gab es nur die Selbsthilfegruppe für alle Altersgruppen, und da waren Kinder bisher kaum vertreten. Inzwischen findet bei FLUSS e. V. ein Stammtisch statt, der sich speziell an Eltern von Trans*Kindern richtet. Vielleicht wäre es aber auch schön, wenn sich nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder untereinander kennenlernen könnten. Weil es einfach guttut zu sehen, dass es auch andere Kinder gibt, denen es ähnlich geht. Weil dieses Wissen darum sowohl den Kindern als auch den Eltern Stärke geben kann. Es gäbe eine mögliche Lokalität, die ein lockeres Beisammensein von Eltern und Kind ermöglichen kann, über mehrere Etagen verteilt, mit einem Spielzimmer, Tischbillard, Kicker und sogar einer Küche und einem Außengelände mit Grillmöglichkeit. Vielleicht können wir hier einen Rahmen schaffen, der uns alle ein Stück weit tragen kann. Mit Erfahrungsaustausch über Ärzte oder Psychologen, die sich auskennen und dabei doch das Herz am rechten Fleck haben. Mit Aufklärungsgesprächen an Schulen und Kindergärten, damit die Wahrnehmung der Pädagogen jetzt und zukünftig geschult werden kann und diese besser auf Kinder, die sich dem anderen Geschlecht oder eben keinem, zugehörig fühlen, eingehen können.

Unser Kind ist übrigens „so“ ein Kind. Ein Junge, der auf einmal lange Haare, Ketten, Röcke und Kleidchen tragen wollte. Und der malte wie verrückt, aber lauter Mädchen, weil ihn das innerlich bewegte. Oft ist er über das Ziel, wie ein Mädchen aussehen zu wollen, herausgeschossen, es konnten gar nicht genug Rüschen, Schleifen und Tüll sein. Wir haben ihn machen lassen. Bis gelästert wurde. Bis wir ihn schützen wollten und ihn darum baten, nur zu Hause als Mädchen rumzulaufen. Aber das ging nicht, sein Wunsch war zu stark, er war sichtlich unglücklich, und „brechen“ wollten wir unser Kind nicht. Damals hatte die Erzieherin großes Bauchweh vor dem Gespräch, in dem sie uns sagte, dass all dies wohl nicht nur eine kurze Phase sein würde, in der kleine Jungs halt auch mal Röcke tragen und sich die Nägel lackieren wollen. Danach war aber klar: der Kindergarten wird jede Art von Mobbing unterbinden. Und diese Klarheit hat uns geholfen unsere Haltung zu finden: unser Kind darf so sein, wie es ist. Vielen Kindern war es total egal, für manche war er ein Junge, für manche ein Mädchen mit einem Jungennamen. Manche haben ihn von da an nicht mehr zu ihrem Geburtstag eingeladen. Oder uns nicht mehr gegrüßt, andere so wie immer. An der neuen Schule stellte sich unser Sohn als Mädchen vor, mit einem selbst gewählten Namen, ohne unser Wissen. Das wurde vom Lehrpersonal souverän so aufgenommen und umgesetzt. Inzwischen hat er geäußert, er finde es schade, dass er nur noch als Mädchen in die Schule könne. Und wir arbeiten daran, dass er sich traut, so angezogen zu kommen, wie ihm gerade zumute ist.

Das Bewahren eben dieser Offenheit aber ist das Allerschwierigste. Wie schnell werden Schubladen geöffnet, Menschen einsortiert und dann in diese Schublade gesteckt, wie schnell Kategorien gebildet, nach dem Motto: klar, ein Junge, der ein Mädchen sein will. Wir nehmen uns da nicht davon aus…
Derzeit ist es aber nicht so eindeutig, und wir wollen diese Schublade geöffnet halten, damit unser Kind alles sein darf, denn es ist echt, es ist ihm ernst damit, sich nicht festlegen zu müssen, mit beiden Rollen zu spielen. Er gibt auch keine Antwort, wenn er gefragt wird, was er sein möchte, und das finden wir gut so. Wir möchten auch nicht, dass er das gefragt wird. Denn das weiß nur er. Und er soll alle Zeit der Welt haben (wenigstens bis zum Einsetzen der Pubertät), um es herauszufinden. Und niemand soll ihn da manipulieren. Von uns Eltern möchte er mit „er“, in der Schule mit „sie“ angesprochen werden. Aktuell trägt er nachmittags mit Überzeugung und Genuss elegante Jungssachen, in der Schule geht er komplett im Tragen von Mädchenkleidern auf. Und er findet sich schön, wählt seine Kleidung sehr bewusst aus. Dementsprechend haben wir einfach einen großen Kleiderschrank…
Er hat ein bisschen mehr Mädchenfreunde als Jungsfreunde, ist öfter ruhig als wild, aber es gibt beides, und es darf beides geben. Spiderman, Superman und Darth Vader sind ihm aber bislang immer noch kein Vorbild.

Und er wirkt glücklich, außer, wenn er Hausaufgaben machen und im Haushalt helfen soll. Als er nicht so sein durfte, wie ihm zumute war, war er nicht glücklich. Dies ist das einzig Sichere, was wir derzeit beurteilen können. Das ist nur unsere Geschichte, und wir wissen nicht, wie unser Kind sich entwickeln wird. Ob es nonbinär, transident, genderfluid, genderqueer oder wie die Benennungen auch alle heißen mögen, ist. Es ist einfach unser Kind. Und – Hand aufs Herz – wer kann tatsächlich von sich aus behaupten, er wisse für immer und endgültig, wie er in 20 Jahren orientiert sein wird, wer er sein wird? Vor der Pubertät haben wir ein bisschen Bauchweh, Respekt vor Hormonen haben wir auch. Aber das sollten vielleicht eh alle Eltern haben….

Liebe Grüße von einer ganz normalen Freiburger Familie